Adrenalin am Steuer

Beim innerstädtischen Autoverkehr gehört die tägliche Adrenalin-Ausschüttung zur Serienausstattung. Das ist weder gesund für den einzelnen Autofahrer, noch zuträglich für die Gesellschaft. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert die Fahrrad-Demo „Critical Mass“.

Letzten Freitag fuhr ich zum ersten Mal bei der „Critical Mass“ mit, einer monatlich in mehreren Städten Deutschlands stattfindenden Fahrrad-Demo. Nach anfänglicher Überwindung, sich bei Dunkelheit und Nieselregen abends aufs Rad zu schwingen, empfand ich das Fahren in einem Pulk von geschätzten 2.000 Radlern als großen Spaß.

Bemerkenswert war aber, die Reaktionen der Autofahrer zu beobachten. Ein prägnantes Beispiel lieferte ein Automobilist, der ohne Rücksicht in die Kolonne der Radler fuhr, weil ihm die Ampel grünes Licht anzeigte und er sich somit im Recht sah.

Dies ist ein ausgesprochen anschauliches Beispiel für asoziales Verhalten, das bei vielen Mitmenschen unter dem Firnis der Zivilisation durchbricht, wenn sie mit Regelkonflikten konfrontiert werden. In diesem Fall hatte der Autofahrer mit zwei sich widersprechenden Regeln zu kämpfen:

a) Du darfst deinen Mitmenschen nicht schaden.

b) Du darfst bei Grün fahren.

Der Fahrer entschied sich für b) und nahm damit die Gefährdung der Radler, also seiner Mitmenschen in Kauf. Wir wollen ihm auch kein vernünftiges Abwägen zwischen den Folgen seiner Handlung unterstellen, sondern ihm stattdessen attestieren, dass er aus Wut und Rache handelte. Und zwar aus Rachegelüsten aufgrund der Kränkung, dass ihn die Radfahrer in seinem Recht beschnitten, bei Grün zu fahren. Dieses Racheverhalten ist nichts anderes als klassische Selbstjustiz.

Es fragt sich zusätzlich, warum der Fahrer überhaupt den „Mut“ aufbrachte, seine Mitmenschen zu bedrohen und als Einzelner den Konflikt mit einer Gruppe zu wagen, wobei schließlich Widerstand von Seiten der Bedrohten zu erwarten ist und es sich also um ein riskantes Manöver handelt. Der vermeintliche Mut entspringt natürlich der tatsächlichen Feigheit, im Schutz des Autos, also eines gewissen Panzers, in eine Gruppe ungeschützter Menschen zu preschen.

Zum Glück schritt – ohne dass ein Radfahrer verletzt oder der Autofahrer gelyncht worden wäre – das staatliche Gewaltmonopol in Form eines Polizisten ein, der den Autofahrer zurückpfiff. Es war mir ein großes Vergnügen, diesen Vorgang zu beobachten.

Interessant ist übrigens auch, dass es sich bei besagtem Autofahrer um einen älteren Herren mit allen Insignien der Mittelschicht handelt, der sich selbst mit Sicherheit als rechtschaffenen Bürger bezeichnen würde, obwohl er seinen wahren, sprich asozialen Charakter mittels Verhalten im Straßenverkehr eindrucksvoll demonstriert.

Wir kennen alle Beispiele dafür. Ich persönlich erlebe oft immer wieder diese Situation: Gehe ich als Fußgänger bei Grün über die Straße, müssen abbiegende Autos halten, obwohl auch ihnen die Ampel Grün zeigt. Springt aber die Fußgängerampel auf Rot, während ich noch über die Straße laufe, verwirke ich aus Sicht des Autofahrers schlagartig mein Recht, über die Straße laufen zu dürfen. Entsprechend aggressiv fallen die Reaktionen aus: Beschimpfungen, Hupen und Drohgebärden mit dem auf den Fußgänger zufahrenden PKW.

Nicht zur Entschuldigung, sondern zu Erklärung dieses weitverbreiteten asozialen Verhaltens sei die physiologische Problematik des innerstädtischen Automobilverkehrs genannt. Autos bewegen sich in Berlin mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 24 km/h, was ein groteskes Missverhältnis zu ihrer Motorisierung und möglichen Geschwindigkeit darstellt. Allein darin liegt schon eine permanente Kränkung insbesondere für Inhaber von Boliden und Sportfuhrwerken, ihre Potenz, also die Potenz ihres Gefährts nicht ausleben zu können.

Aber zur Physiologie: Nehmen wir einen Berufstätigen, der morgens mit dem Auto zur Arbeit fährt und in einen Stau gerät. Er wird nicht pünktlich sein und vielleicht ein wichtiges Meeting verpassen. Er weiß nicht einmal, wie lange ihn der Stau aufhalten wird. Er kann weder fliehen, noch angreifen. Wenn diese beiden von der Natur und unserem Organismus vorgesehenen Lösungsmöglichkeiten entfallen, wird es kritisch. Der Autofahrer sitzt wütend, aber zur Reglosigkeit gezwungen, hinterm Steuer. Sein Körper schüttet Adrenalin aus, das zur Mobilisierung dient, die aber nicht ausgelebt werden kann. Im selben Zusammenhang reagiert der Zucker-Haushalt des Körpers. Eine Folge des nicht genutzten Mobilisierungspotenzials ist abgesehen vom Stress, dass unser Autofahrer später im Büro Appetit auf etwas Süßes haben wird, obwohl er ausreichend gefrühstückt hat, weil der Körper den Zuckerspiegel wieder auf Normalniveau bringen will.

Meine persönliche Erfahrung als Autofahrer hat mich vor über zehn Jahren schon dazu gebracht, auf ein Auto zu verzichten. Ich war nicht mehr in der Lage, auch nur kurze Stadtfahrten zu unternehmen, ohne wütend zu werden. Wütend über das ewige Anfahren und Stehenbleiben. Wütend über die anderen Verkehrsteilnehmer, die aus meiner Sicht selbstverständlich allesamt nicht verkehrsfähig sind, wie dies auch alle anderen über jeweils alle anderen denken.

Das Auto im Innenstadtverkehr ist meiner Meinung ein völlig unterschätztes Kraftwerk, in dem täglich Unmengen unnötiger Aggression produziert werden. Und das ist nicht nur an den Symptomen ablesbar, sondern physiologische Tatsache, die in Form von messbarer Adrenalin-Ausschüttung und anderer körperlicher Prozesse abläuft, die in Stress- und Gesundheitsschädigung wie auch Selbstjustiz und Gefährdung anderer münden.

Allein aus diesem Grund, und es gibt noch zahlreiche andere, kann ich die Forderung, den individuellen Automobilverkehr in den Städten zurückzudrängen, nur wärmstens begrüßen. Eine regelmäßige Demonstration wie die „Critical Mass“ stellt die psychischen, physiologischen und sozialen Probleme des Autoverkehrs bloß. Obschon es noch einiger Maßnahmen und Jahrzehnte bedarf, bis auch der letzte Autofahrer versteht, dass sein Recht, bei Grün zu fahren, ihn nicht legitimiert, seine Mitmenschen zu gefährden und Selbstjustiz zu üben.

Aus den 50er Jahren ist die durchaus diskriminierende Sentenz „Frau am Steuer – das wird teuer“ überliefert. Als zeitgemäße Aktualisierung würde ich „Adrenalin am Steuer – das ist teuer“ vorschlagen.

 

[flattr user=“bukowski“]

12 Gedanken zu „Adrenalin am Steuer

  1. Frank

    Die vermeinliche Regel b) existiert nur in Unkenntnis der StVO und der Rechtssprechung – siehe auch Wikipedia

    „Mehr als 15 Radfahrer dürfen nach § 27 der StVO einen geschlossenen Verband bilden, der allerdings als solcher für andere Verkehrsteilnehmer deutlich erkennbar sein muss. Für diesen Verband gelten sinngemäß die Verkehrsregeln eines einzelnen Fahrzeuges und er hat z. B – als wäre er etwa ein Sattelzug – in einem Zug über eine Kreuzung mit Ampel zu fahren, selbst wenn diese zwischenzeitlich auf Rot umschaltet. Dies wurde durch ein Urteil des Landgerichts Verden 1989 bestätigt.[5] Aus dem gleichen Grund darf er z. B. erst dann links abbiegen, wenn die Lücke im Gegenverkehr für die Passage des ganzen Verbandes ausreicht. Für Radfahrer eines Verbandes gilt zudem nicht die Radwegbenutzungspflicht nach § 2 Abs. 4 StVO und sie dürfen auf der Fahrbahn zu zweit nebeneinander fahren.“

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    1. bukowski Artikelautor

      @Frank Völlig richtig. Regel b) ist, wie von mir angegeben, definitiv falsch. Sonst könnte es auch keine Critical Mass geben. Aber die meisten Verkehrsteilnehmer kennen die richtige Regel eben nicht und wähnen sich im Recht.

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  2. Pingback: Woanders – Der Wirtschaftsteil | Herzdamengeschichten

  3. Susann

    Besonders auffällig geworden ist mir diese Adrenalin-Ausschüttung als ich nach langer Zeit auf dem Rad mal wieder in ein Auto gestiegen bin. Ich fahre gern Auto. Auf der Landstraße oder auf der Autobahn. Aber um Himmels willen nicht in der Stadt. Da macht es mich schon aggressiv, Beifahrer zu sein. Dieses ewige Anhalten und Losfahren… Eigentlich ein Wunder, dass nicht noch mehr Autofahrer regelmäßig ausrasten…

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  4. watt is

    Fahradfahrer in allen Ehren…..

    ich sehe täglich Fahradfahrer auf den Straßen unseres ländlichen Gebietes. Viele können mit Kleinkindern vergleichen. Aufpassen ist angesagt.

    Die schlimmsten Exemplare sind aber diejenigen, die auf penetranteste Art und Weise nebeneinander fahrend und schwätzend als Tour de France Ersatz Straßen in unübersichtlichen Kurven blockieren
    – die den fliessenden Verkehr behindern, obwohl es nicht sein müsste
    – die sich penetrant in Gruppen über alle Regeln hinweg setzen (Regeln gelten in deren Augen scheinbar immer nur für die anderen Verkehrsteilnehmer)
    – die bei Rot über alle Ampeln fahrend Autofahrer beschimpfen
    – die sich an Critical Mass Demos beteiligen um den Autofahrer zu zeigen, das sie doch recht kleine Würstchen sind, die man bedenkenlos ärgern kann (eigendlich genau das, was den Autofahrern vorgeworfen wird)

    Sorry, aber ein wenig Rücksichtnahme beiderseits würde die Probleme eher lösen.
    Militantes Auftreten und Drangsalieren hat der menschlichen Psyche noch immer geschadet und erzielt meist das Gegenteil.
    Einfach mal nachdenken und ruhiger werden. Gilt für beide Seiten.

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    1. bukowski Artikelautor

      In diesem Beitrag ist mit keinem Wort davon die Rede, dass etwa alle Autofahrer böse und alle Radler gut wären. Es geht vielmehr um das spezifische Problem des innerstädtischen Autoverkehrs. Auch dienen die Fahrrad-Demos nicht dazu, andere zu ärgern, sondern auf das Problem aufmerksam zu machen. Unsere Städte sind für den Autoverkehr optimiert, nicht für die Menschen. Letzteres wäre wünschenswert, rücksichtsvolleres Verhalten inklusive.

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      1. watt is

        Falsche Vorgehensweise, Fahrraddemos ärgern Autofahrer nun mal. Ebenso würde es Radfahrer ärgern, sollten Autofahrer Demos auf Radwegen machen.
        Die von Dir geschilderte (selbstverständlich korrekte) Problematik wird so an falscher Stelle kundgetan. Die dafür verantwortlichen interessiert diese Vorgehensweise leider nicht.
        Die Probleme werden sich in einigen Jahren aber durch Umweltverschmutzung, E-Mobilität und andere Faktoren selbst erledigen. Zero-Emission ist das Stichwort.
        Dann werden unsere Innenstädte vermutlich Autofrei sein.
        Geht glücklicherweise gar nicht anders.

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        1. <°((( ~~<

          Die Autofahrer machen jeden Tag Demos auf Radwegen. Man muss schon selbst im Auto sitzen, um das nicht zu bemerken.

          Der Herr WATT IS kommt vermutlich vom Lande, wo es genügend Parkplätze gibt. Hier in der Stadt werden die Radwege ja nur von rücksichts*vollen* Autofahrern zugeparkt. Die rücksichts*losen* parken in zweiter Reihe auf der Straße, wo sie sogar andere Autofahrer behindern. Das ist ein Skandal.

          Also, nochmal ohne Sarkasmus: Wenn man hier in der Stadt radfährt, kommt man in einer halben Stunde leicht an ca. 50 KFZ vorbei, die Radwege zuparken oder andere Leute behindern, Einfahrten, Bushaltestellen, Gehweg-Ecken. Ihre Begründung dafür, dass sie das dürfen lautet „Aber hier gibt es doch keine Parkplätze!“ Aha.

          Sie meinen: Parkhaus wäre ihnen zu teuer und legaler Parkplatz einfach zu weit weg zum laufen. Dann würde sich das Auto also nicht lohnen.

          Oder die Suche würde zu lange dauern, und man kommt womöglich zu spät. Die Antwort „Rechtzeitig losfahren hilft!“ wollen sie auch nie hören. Nie.

          Falls einer auf die Idee kommt, zu sagen „Was soll ich denn sonst tun?“ lautet die Antwort eigentlich immer: „Das Auto zu Hause lassen. Bus fahren, Rad fahren, wie die anderen vernünftigen Menschen auch.“

          In den kleineren Städten hört man dann immer „Aber wir hier haben nicht so viele Busse und so schöne U-Bahnen!“

          „Und deshalb bist du verpflichtet, allen anderen mit deiner Karre auf die Nerven zu fallen, ja?“

          Natürlich hält sich jeder selbst für einen guten und rücksichtsvollen Autofahrer, die anderen können deshalb doch auch mal fünf Minuten warten, ist doch nicht schlimm, weil man doch nur ganz kurz, ganz schnell…

          Ich wünsche mir nichts dringender als eine autofreie Innenstadt. Nachschulung für Parksünder, Pappe weg für Raser. Anders gehts ja anscheinend nicht.

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  5. <°((( ~~<

    Wunderbar! Eins meiner Lieblingsthemen!

    Dass Autofahrer ihr vermeintliches Recht erzwingen wollen, liegt wohl am Schutz, den die Blechdose ihnen gewährt. Ich beobachte das mit Bedauern durchaus an mir selbst: Alle anderen sind Schweine, fahren aggressiv, rücksichtslos, zu schnell oder zu langsam – alle anderen machen es FALSCH!

    „Die sind nur hierhergekommen, um mich aufzuhalten!“

    Sobald man in der Blechdose sitzt, setzt der Verstand aus, der Fahrer ist rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich: „Aber du darfst nicht absichtlich Radfahrer umfahren, auch wenn du Vorfahrt hast!“ kommt in der zuständigen Gehirnregion einfach nicht an. Bei manchen bleibt es allerdings auch so, wenn sie das Auto wieder verlassen haben.

    Bei der CriticalMass traf ich allerdings auf einen entsprechenden Effekt bei Radfahrern. Die Gruppe war schnell weit auseinandergerissen, hauptsächlich deshalb, weil die vorne ihr Recht auf Rasen ausleben wollten und die Eltern mit Kindern dem nicht folgen konnten. Es entstanden erhebliche Lücken, für zufällig kreuzende Autofahrer war ein Konvoi beim besten Willen nicht erkennbar. Nun stellten sich radfahrende Sherriffs, allerdings ohne jede Kennzeichnung, auf die Kreuzung und blockierten den Querverkehr, vermutlich weil sie glaubten, durch die CriticalMass das *Recht* dazu erhalten zu haben. Für die arglosen Autofahrer muss das wie die reine Provokation ausgesehen haben.

    War ganz überraschend zu sehen, wie auch Fahrradpunks blitzschnell zu amtsanmaßenden Spießern mutieren.

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  6. Cinema_Noir

    Vielleicht ist gerade die mangelnde Möglichkeit zur Flucht eines der Hauptprobleme. Zudem sind die Straßen in der Hauptverkehrszeit schon lange nicht mehr für die Menge an Automobilen ausgelegt. Hinzu kommt, das die täglichen Berufspendler dank der Ampelschaltungen kaum schneller als die erwähnten 24km/h vorankommen. Freiheitsentzug von allen Seiten. Und dann die sehr freien Radfahrer auf der Gegenseite. :)

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